H. Hartmann: Ländliche Entwicklung und internationales Expertenwissen in der Türkei

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Titel
Eigensinnige Musterschüler. Ländliche Entwicklung und internationales Expertenwissen in der Türkei (1947–1980)


Autor(en)
Hartmann, Heinrich
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
460 S.
Preis
€ 49,00
von
Elife Biçer-Deveci, Institut für Geschichte, ETH Zürich

Heinrich Hartmann untersucht in der zu besprechenden Studie die ländliche Modernisierung in der Türkei während der Nachkriegszeit und die Rolle der internationalen Entwicklungshilfe in diesem Prozess. Die Objekte seiner Untersuchung sind Experten der Entwicklungshilfe, zumeist US-Amerikaner, philanthropische Stiftungen wie die Rockefeller Foundation, zahlreiche internationale Organisationen wie die Ford Foundation und der Population Council sowie die Food and Agriculture Organization (FAO), die World Health Organization (WHO) und die Organization for Economic Co-operation and Development (OECD). Die ländliche Modernisierung umfasst dabei die Landwirtschaft, die Gesundheit und die Bevölkerungsstatistik sowie viele andere Bereiche wie Schule, die Ausbildung im traditionellen Beruf der Hebammen, Aufklärung über Fortpflanzung und Verhütungsmittel für Frauen. Hartmann interessiert sich für Prozesse der Wissensgenerierung und geht davon aus, dass es kein «globales» Wissen gibt. Er will das «Wissen» aus den verschiedenen Blickwinkeln der Wissenschaftler und internationaler Experten lokalisieren.

Das Quellenmaterial ist dicht und heterogen. Es besteht aus Archivalien und Publikationen der oben erwähnten Organisationen, Akten der amerikanischen Presidential Libraries und wissenschaftliche Studien. Letztere umfassen Monographien zu einzelnen Dörfern, Untersuchungen aus der «Dorfsoziologie» sowie statistische Erhebungen. Der Autor verweist auf die Problematik dieses disparaten Quellenkorpus: «Weite Teile Zentralanatoliens sowie des kurdischsprachigen Südostens bleiben untererforscht.» (S. 39).

Das erste Kapitel nimmt den Marshallplan zum Ausgangspunkt, um den Kontext der Nachkriegszeit darzulegen. Im Zentrum der Analyse stehen die Rockefeller Foundation und ihre Rolle im Ausbau des türkischen Gesundheitswesens, die Rolle internationaler Experten in der landwirtschaftlichen Modernisierung sowie die Bedeutung von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen in der Entwicklung der «Dorfsoziologie» und der Bevölkerungsstatistiken. Der daraus entstandene wissenschaftliche Diskurs über ‘das Dorf’ hat die folgenden Jahrzehnte geprägt, und zwar insbesondere hinsichtlich der landwirtschaftlichen Modernisierung.

Im zweiten Kapitel geht es um den Zeitraum von 1947 bis 1958. Der Marshallplan definierte die Rolle der Türkei als «Kornkammer» für Europa und schrieb ihr somit einen festen Platz in der europäischen Wirtschaftsordnung zu. Die Modernisierung scheiterte jedoch aus mehreren Gründen: das schnelle Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion in einigen Ländern Europas, vielschichtige Hindernisse auf dem Land (etwa die gescheiterte Vermittlung, wie Traktoren zu bedienen sind), die Mobilität der Bevölkerung und die Bestrebungen der türkischen Regierung, die Modernisierung in der Türkei vom Marshallplan zu entkoppeln. Wissensgeschichtlich war die Entwicklung insofern von Bedeutung, als statistische Methoden wichtige Bestandteile von Modernisierungsprogrammen wurden. Strukturelle Probleme wie die versteckte Arbeitslosigkeit wurden zum ersten Mal als Hemmschuhe erkannt.

Das dritte Kapitel handelt vom Zeitraum 1958 bis 1963. Die internationale Entwicklungshilfe wurde nun geprägt vom Erstarken der Bundesrepublik Deutschland, die von nun an eine Führungsrolle einnahm. Dabei spielten ehemalige Exilwissenschaftler in der Türkei und Landwirtschaftsexperten eine entscheidende Rolle. Sie stärkten die institutionellen und akademischen Kooperationen. Aus wissenshistorischer Sicht sind Entwicklungen in der Verhaltensforschung zu erwähnen. Der Schwerpunkt lag nun vermehrt auf Gesundheits- und Geburtenprogrammen.

Im vierten Kapitel stellt der Autor die späten 1960er und 1970er Jahre als Hochphase neuer Entwicklungsprojekte und verschärfter Nationalisierung dar. Die Entwicklungshilfe wurde geprägt von neuen Ansätzen der Modernisierungstheorie, insbesondere von der Dorfsoziologie und von Studien zu «knowledge», «attitudes» und «practices». Die Türkei wurde somit zu einer interessanten Fallstudie für die Anwendung neuer Methoden (Fragebogen, Interview, Lochkarte).

Das Buch bietet eine grosse Dichte von Informationen über die Modernisierung der Landwirtschaft in der Türkei, in welcher Wissenschaft und internationale Entwicklung eine bedeutende Rolle spielten. Die «nichttürkische» Perspektive schadet indes dem Anliegen des Autors, eine «transnationale Geschichte der türkischen ländlichen Entwicklung» (S. 17) zu verfassen. Für ein solches Anliegen ist gerade der Einbezug von lokalen Perspektiven in die Untersuchung von Bedeutung, um dem Anspruch der transnationalen Geschichtsschreibung zu erfüllen. Die immer wieder zu findenden Verweise auf lokale sozialpolitische Entwicklungen zeigen, dass ohne die Berücksichtigung der «türkischen» Perspektive viele Phänomene der Wissensgenerierung nicht möglich wären. Eine Vertiefung lokaler Aspekte hätte geholfen, die Misserfolge und das Scheitern der Entwicklungsprojekte konkreter zu erklären.

Ein für die türkische Landwirtschaft wichtiges Produkt ist schliesslich Opium. Seine Bedeutung war seit dem frühen 20. Jahrhundert auch Thema internationaler Expertendiskurse. Der Anbau wurde in der Nachkriegszeit von der internationalen Staatengemeinschaft verboten.1 Das Thema wird vom Autor jedoch nicht angesprochen. Dabei hätte seine Berücksichtigung erlaubt, die internationale Entwicklungshilfe im Hinblick auf das «Kurdenproblem» zu problematisieren. Das Verbot des Opiumanbaus führte nämlich zur Verarmung der breiten ländlichen Bevölkerung in mehrheitlich kurdischsprachigen Regionen, was die bewaffneten Konflikte in dieser Region nährte.

Nichtsdestotrotz machen detaillierte Schilderungen und ausführliche Kontextualisierungen das Buch zu einer wichtigen Studie, nicht nur für Türkeiforschende, sondern auchfür die HistorikerInnen der internationalen Entwicklungshilfe.

Anmerkungen
1 Vgl. Walter Posch, Narcos: Türkei, in: Zenith 22/2 (2020). S. 24–29, hier S. 25.

Zitierweise:
Biçer-Devec, Elife: Rezension zu: Hartmann, Heinrich: Eigensinnige Musterschüler. Ländliche Entwicklung und internationales Expertenwissen in der Türkei (1947–1980), Frankfurt am Main / New York 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (2), 2021, S. 400-402. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00088>.